Der Fall des französischen Streamers zeigt auf, wo die moralischen Grenzen aller Beteiligten liegen müssen.

Die Streamingszene ist so bunt und vielfältig wie ihre Vertreter. Inzwischen gibt es Streamer allen Ortes, allen Alters und mit den unterschiedlichsten Inhalten. Die einen erweitern lediglich ihre Hobbys, andere bauen sich damit ihre Selbstständigkeit auf.
Doch so, wie Streaming für die einen den Eintritt in ein völlig neues Leben bedeuten kann, gibt es auch Fälle, in welchen die Entscheidung, das eigene Leben live zu übertragen, den Anfang vom Ende darstellt.
Wenn Demütigung zum Business wird
Raphaël Graven war unter dem Usernamen Jean Pormanove bekannt. Der 46-jährige Franzose galt als Sonderfall der Streamerszene, nicht nur wegen seines Alters, sondern auch wegen den bizarren, schmerzhaften und teils ekelerregenden Challenges, denen er sich unterzog – oder sich unterziehen ließ.
Als JP von TikTok und Twitch zu Kick wechselte, wurde er dort deshalb schnell zu einem der meistgesehenen französischen Streamern. Die Plattform, die immer wieder durch ihre fragwürdigen Vertreter auffällt, zieht Menschen wie ihn an, nicht nur als aktive Streamer, auch die Zuschauer sind begeistert von immer extremeren, immer fragwürdigeren Inhalten in den Livestreams.
Er und seine Co-Streamer Owen "Naruto" Cenazandotti und Safine Hamadi fügten sich gegenseitig immer wieder Schmerzen zu und setzten sich gegenseitig psychisch unter Druck. Elektroschocks, Paintball-Waffen und Schlafentzug waren dabei nur die Spitze eines Eisbergs der gegenseitigen Erniedrigung als Businessmodell.
Ein schutzbedürftiges Opfer
Das große Problem dabei: Während die beiden anderen die Entscheidungen, dies zu tun, voll zurechnungsfähig trafen, galt Graven als schutzbedürftig. Psychische wie kognitive Einschränkungen und körperliche Erkrankungen machten den Streamer manipulierbar und damit zu einem gefundenen Fressen für die Kick-Community.
Oftmals war nicht ganz klar, ob JP überhaupt wusste, worauf er sich einließ, wenn seine Streamerfreunde ihn zu neuen Aktionen überredeten, es kursieren sogar Aufnahmen von Telefongesprächen, in welchen die Mutter des 46-Jährigen ihn bittet, mit dem Streamen aufzuhören. Doch Graven fühlte sich gedrängt, weiterzumachen.
Ein zweiwöchiges Martyrium
Im August 2025 erreichte diese grauenhafte Dynamik ihren tragischen Tiefpunkt: Raphaël Graven verstarb an den Folgen der grausamen Folterungen – vor laufenden Kameras und tausenden von Zuschauern.
Eine 12 Tage andauernde Challenge war Ausgangspunkt seines schrecklichen Ablebens. Die Streamer schlugen und strangulierten sich gegenseitig, misshandelten besonders den Franzosen stark und setzten seine Psyche extremer Belastung aus. Während der zwei Wochen filmten und streamten sie dabei ununterbrochen, Zuschauer konnten rund um die Uhr dabei zusehen, wie sich das Trio quälte und demütigte und dabei vor allem JP als ihren Prügelknaben auserkoren hatten.
In der Nacht des 18. Augusts, als man dem Streamer kurzzeitig gestattete sich hinzulegen, da er zu erschöpft schien, um dem Treiben noch in irgendeiner Form beizuwohnen, verstarb er. Zuschauer bemerkten, dass JP zunächst schwer atmete und sich das Ganze alles andere als rhythmisch anhörte. Irgendwann schien sich seine Atmung jedoch wieder beruhigt zu haben.
Polizei stellt Tod des Streamers fest
Als die anderen Streamer am nächsten Morgen darauf hingewiesen wurden und den 46-Jährigen wecken wollten, reagierte er nicht. Sie bewarfen ihn mit einer Plastikflasche, um ihn unsanft aus dem Schlaf zu holen, doch Graven zeigte keinerlei Regung. Erst da wurde den anderen klar, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zu ging. Als weitere Versuche Graven zu wecken scheiterten, verständigten sie die Polizei, die nur noch den Tod des Streamers feststellen konnte.
Reaktionen der Behörden und der Regierung
Die französischen Behörden – insbesondere die Staatsanwaltschaft in Nizza – reagierten prompt: Eine Untersuchung sowie eine Autopsie sollen Aufklärung über den Vorfall geben, sämtliche technische Ausrüstung vor Ort wurde beschlagnahmt.
Die Digitalministerin Clara Chappaz sprach von einem “absoluten Grauen” und erinnerte daran, dass Plattformen für die Verbreitung rechtswidriger Inhalte gesetzlich zur Verantwortung gezogen werden können.
Selbst für die kontroverse Streamer-Plattform Kick handelt es sich hierbei um einen extremen Ausnahmefall, Kritik an ihr, ihren Streamern und den Inhalten, die geduldet werden, regnet es jedoch konstant.
In den Guidelines von Kick steht zwar „Gewalt, die erheblichen Schaden, Leid oder Tod darstellt, ist nicht erlaubt,“ wie genau dies in Livestreams jedoch kotrolliert und moderiert werden soll, geht nicht hervor. Zumindest im Fall von Graves Tod scheint man aktiv geworden zu sein: Die Plattform bannte sämtliche Beteiligten und gab an, mit den Ermittlern zusammenarbeiten zu wollen.
Wer trägt Schuld?
Auch wenn Raphaël Graven als 46-jähriger Mann eine gewisse Eigenverantwortung zu tragen hatte, ist der Fakt, dass er betreut werden musste, doch eklatant wichtig bei der Frage, wer Schuld an seinem Tod hat.
Letztlich sind wohl alle Beteiligten des Streams auch direkt oder indirekt mitverantwortlich:
Zunächst Kick selbst. Die Plattform wusste sehr wohl um Graves, seinen Zustand und die Inhalte, die er und Freunde veröffentlichten. Teilweise veröffentlichten sie selbst zuvor Bilder des malträtierten Streamers, auf welchen er ihren Merch trug, um dafür zu werben.
Doch auch die Zuschauer, die diese Gewalt als Spektakel konsumieren und finanziell unterstützen, tragen eine Teilverantwortung. Die Begeisterung, mit der sie die Erniedrigungen aufnahmen und Demütigung sowie den Verlust von Autonomität forderten, trug zur entmenschlichenden Natur der Streams und Challenges zusätzlich bei.
Die letztlich größte Schuld tragen aber sicherlich Graves Streamerkollegen, die seinen Zustand nicht nur ausnutzten, sondern seinen Wunsch, die Challenge abzubrechen, ignorierten.
Aus der Tragödie lernen
Ein letztes Lebenszeichen Graves soll eine Nachricht an seine Mutter gewesen sein, in welcher er schrieb:
Hallo Mama. Wie geht es dir? Ich hänge total an seinem Spiel fest. Das geht zu weit. Ich fühle mich wie ein Gefangener ihres [...] Konzepts. Ich habe die Nase voll, ich will raus, der andere will nicht, er hält mich gefangen.
Das tragische Ende von Raphaël Graven kann nicht rückgängig gemacht werden, dennoch bleibt die Hoffnung, dass die Behörden, der Gesetzgeber, aber auch die Plattformen und die Zuschauer selbst dies als mahnendes Beispiel dafür ansehen, dass die ewige Gier nach Sensation und Aufmerksamkeit im Netz unbedingte Grenzen haben müssen.