Eine Frau wehrt sich auf Social Media gegen sexuelle Belästigung – bis der ganze Fall eine Wendung nimmt.
Auch wenn TikTok als Plattform einen eher unrühmlichen Ruf hat, kann es dennoch auch ein guter Weg sein, um auf soziale Missstände oder das Fehlverhalten eines Menschen hinzuweisen – solange dieses Fehlverhalten denn auch wirklich so geschehen ist.
Der Fall rund um die ehemalige DoorDash-Fahrerin Olivia Henderson löste innerhalb kürzester Zeit eine Welle öffentlicher Aufmerksamkeit aus, eben weil das Thema an sich wichtig und brisant ist, Henderson der Debatte jedoch einen ziemlichen Bärendienst erwiesen zu haben scheint.
Was als scheinbar persönliche Erfahrung einer Lieferfahrerin begann, die nach eigener Aussage sexuell belästigt wurde, entwickelte sich schnell zu einer moralischen Kontroverse und vielen Fragen rund um feministischen Support, Privatsphäre, Wahrheit und vor allem darum, wie mit alledem auf TikTok umgegangen wird.
Eine Frau wehrt sich... und geht viral
Ausgangspunkt des Ganzen war ein TikTok-Video Hendersons. In diesem gab sie an, während ihrer Arbeit als Lieferantin für den FoodService DoorDash sexuell belästigt worden zu sein. Sie erzählte, das Essen an die angegebene Adresse gebracht zu haben, die Tür des Hauses aber weit offenstand und sich im inneren ein Mann befand, der nackt auf seinem Sofa lag, um sich ihr zu präsentieren.
Sie gab an, dies umgehend auch an DoorDash gemeldet und die Polizei kontaktiert zu haben und wolle nun auch auf TikTok über das Thema reden, um andere Frauen vor ähnlichen Übergriffen zu schützen.
Soweit so gut und wichtig, denn die Dunkelziffer von nicht-gemeldeten Fällen sexueller Übergriffe gegen Frauen ist gewaltig und fußt nicht zuletzt auf der Sorge vieler Frauen, sich dadurch angreifbar zu machen oder ihnen Behörden und Umfeld nicht glauben könnten.
Henderson schien mit ihren Videos aufzeigen zu wollen, wie wichtig es ist sich zu wehren und erklärte auch, dass DoorDash entsprechend reagierte, ihr bestätigt hatte, den Kunden von ihrem Service auszuschließen, während die Polizei die Ermittlungen aufnahm und ihre Statements auf TikTok viral gingen.
Erste Zweifel an ihrer Geschichte
Kurz darauf aber schien sich das Blatt zu wenden. In einem Folgevideo sprach die vermeintlich Belästigte davon, dass DoorDash sie erneut kontaktiert hatte, um ihr mitzuteilen, dass sie selbst nun sowohl als Lieferantin wie Kundin vom Dienst ausgeschlossen sei, während TikTok sie angeblich "zensieren" wollte.
Aufgebracht redete sie davon, dass Opfer zu sein und man sie "ruhig stellen" wollte, so dass inzwischen selbst die Polizei gegen sie ermitteln würde – auch bei ihren Followern kamen erste Zweifel auf.
Während die anfänglichen, viral gegangenen Videos hauptsächlich mit unterstützenden Worten kommentiert wurden, gab es nun erste Fragen bezüglich des Wahrheitsgehalts ihrer Geschichte.
So soll das Originalvideo welches mittlerweile gelöscht wurde, gezeigt haben, dass Henderson die Tür aufgestoßen hatte, obwohl sie bei späteren Schilderungen des Vorfalls davon sprach, dass die Tür weit offenstand. Andere fragten zudem, ob TikTok ihr Video eventuell nicht entfernt hätte, um sie zu zensieren, sondern weil sie den nackten, wohl schlafenden Mann gezeigt hatte, was nicht nur gegen Persönlichkeitsrechte verstoßen würde, sondern auf einer Plattform, auf die auch Jugendliche zugreifen würden, mehr als unangebracht wäre.
Der Beschuldigte verteidigt sich
Denn der vermeintliche Belästiger hatte sich inzwischen ebenfalls eingeschaltet. Er hatte auf die Sperrung durch DoorDash reagiert, in dem er seine Seite des Falls schilderte und bewies, dass er bei seiner Bestellung explizit angegeben hätte, die Lieferung solle vor seine Haustür gestellt werden. Als Henderson sein Haus betrat, hatte sie entgegen seinem ausdrücklichen Wunsch gehandelt – insbesondere, weil die Tür laut ihm nicht offenstand, sondern sie von der Lieferantin aufgestoßen wurde.
Auch den ermittelnden Polizisten gegenüber gab er dies an und belegte seine Behauptungen zusätzlich mit einer Videotürklingel, die Aufnahmen machte, wenn sich jemand dem Haus näherte. Er gestand zwar zu, dass dies kein besonders eleganter Moment seinerseits gewesen war, er das Essen in stark alkoholisiertem Zustand bestellt und dann halb entkleidet auf der Couch eingeschlafen war – es aber nie seine Absicht war, dass Henderson (ganz zu schweigen ihre Follower) dies mitansehen müssten.
Plötzlich war Henderson selbst Täterin und wurde wegen unerlaubter Überwachung und Weitergabe vertraulichen Bildmaterials verhaftet und angeklagt.
Ein Bärendienst für belästigte Frauen
Experten gehen davon aus, dass Henderson mit bis zu acht Jahren Haft rechnen dürfte, wobei die Konsequenzen weit über ihr Einzelschicksal hinausgehen könnte.
Denn der Fall zeigt exemplarisch, wie schnell Social Media Narrative erzeugen kann und wie schwer es wird, diese zu korrigieren, sobald sie viral sind. Was in Sekunden empörte Solidarität auslöst, kann sich innerhalb weniger Tage als rechtlich problematisch oder sogar falsch herausstellen. In diesem Spannungsfeld entstehen Opfer auf mehreren Ebenen: sowohl der gefilmte Mann, dessen Intimsphäre verletzt wurde, als auch Henderson selbst, die von der Dynamik überrollt wurde. Doch der Schaden endet nicht dort.
Besonders schwer wiegt die Frage, welchen Einfluss dieses Ereignis auf den gesellschaftlichen Umgang mit echten Fällen sexueller Gewalt hat. Sexualisierte Übergriffe sind ein weit verbreitetes Problem, und Betroffene kämpfen oft damit, gehört und ernst genommen zu werden. Viele erleben Victim-Blaming, Scham, Zweifel oder Schweigen – und genau deshalb sind Glaubwürdigkeit und Sensibilität in solchen Diskussionen essenziell.
Wenn Fälle wie dieser vorschnell veröffentlicht und als Opfergeschichte inszeniert werden, ohne dass Beweise vorliegen, kann das einen gefährlichen Nebeneffekt erzeugen: Es stärkt jene Stimmen, die ohnehin jede Anschuldigung reflexartig anzweifeln. Für echte Betroffene bedeutet dies zusätzliche Hürden, emotional, sozial und juristisch. Ein vermeintlicher Akt des "Empowerment" kann so unbeabsichtigt zur Munition für Skepsis gegenüber allen werden, die Missbrauch melden.
Am Ende bleibt ein komplexes Bild: Hendersons Situation mag von echter Angst, Unsicherheit oder Überforderung geprägt gewesen sein – doch ihre Entscheidung, die Situation öffentlich zu machen, ohne Beweise oder Rücksicht auf Privatsphäre, war folgenschwer. Sie hat nicht nur einem einzelnen Menschen geschadet, sondern unbewusst auch jenen, deren Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt ohnehin viel zu oft infrage gestellt werden.