Cancel Culture – Echt oder ein Mythos?

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© PopCrave via X, cristiano via Instagram

Der Begriff Cancel Culture ist seit Jahren fester Bestandteil gesellschaftlicher Debatten. Von konservativen Kommentaren als Hexenjagd gebrandmarkt, von Aktivisten als Rechenschaft eingefordert, steht die Frage im Raum, was diese Kultur wirklich bewirkt. Werden Täter tatsächlich zur Verantwortung gezogen? Oder ist Cancel Culture längst ein Schlagwort ohne Substanz geworden? Besonders auffällig: Männer mit Vorwürfen zu sexueller Gewalt, häuslicher Misshandlung oder Machtmissbrauch führen oft völlig unbeeindruckt ihre Karrieren weiter, als wäre nichts gewesen.

Was ist Cancel Culture überhaupt?

Cancel Culture beschreibt den öffentlichen Aufruf, Einzelpersonen oder Organisationen zu boykottieren, wenn diese sich inakzeptabel verhalten haben. Ursprünglich eine digitale Protestform marginalisierter Gruppen wurde sie besonders durch soziale Netzwerke wie Twitter verbreitet. Spätestens mit MeToo wurde das Konzept zum globalen Phänomen. Die Idee: Öffentlichkeit ersetzt fehlende juristische Konsequenz. Kritiker behaupten jedoch, es handele sich um eine moderne Form sozialer Hexenjagd. Vor allem rechte Stimmen nutzen den Begriff, um feministische oder antirassistische Bewegungen zu untergraben.

Karriere trotz schwerer Vorwürfe?

Obwohl so laut über Cancel Culture diskutiert wird, gehören einige der größten Namen in Entertainment, Sport und Popkultur zu Männern mit schweren Missbrauchs– oder Gewaltvorwürfen und trotzdem führen sie weiterhin makellose, gefeierte Karrieren. Hier ein paar Beispiele.

Johnny Depp wurde jahrelang von Amber Heard der häuslichen Gewalt beschuldigt, doch am Ende richtete sich der Hass im Netz gegen sie. Obwohl das Gerichtsverfahren sich nicht um die Misshandlung selbst, sondern um Rufmord drehte, wird Depp heute wieder wie ein Held gefeiert. Schon Jahre davor gab er offen zu, ein Problem mit gewalttätigen Verhalten und Drogenmissbrauch zu haben.

Chris Brown verprügelte Rihanna, wurde verurteilt und bekam später unzählige Vorwürfe, darunter Vergewaltigung, trotzdem spielt er ausverkaufte Shows und wird mit Preisen geehrt.

Mike Tyson wurde wegen Vergewaltigung verurteilt, saß drei im Gefängnis und wurde danach zur Popkulturfigur.

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© Netflix

Brad Pitt wurde von Angelina Jolie schwer belastet, es geht um häusliche Gewalt. Laut Gerichtsdokumenten und einem FBI–Bericht soll er sie und die Kinder während eines Flugs körperlich angegriffen haben. Auch seine ältesten Kinder haben sich inzwischen öffentlich von ihm distanziert und stehen klar auf der Seite ihrer Mutter.

Cristiano Ronaldo wurde 2009 von Kathryn Mayorga der Vergewaltigung beschuldigt, zahlte ihr 2010 im Rahmen einer außergerichtlichen Einigung 375.000 Dollar und wurde nie strafrechtlich belangt, obwohl geleakte Dokumente aus dem Ermittlungsverfahren selbst seine eigene Aussage enthält, dass sie „wiederholt Nein gesagt“ habe. Seine Karriere blieb trotz der Vorwürfe vollkommen unberührt.

Donald Trump sieht sich seit Jahrzehnten Vorwürfen sexueller Übergriffe und Belästigung ausgesetzt, mindestens 27 Frauen haben ihn beschuldigt, in einem Fall wurde er zivilrechtlich verurteilt, trotzdem wurde er zweimal zum mächtigsten Mann der Welt gewählt.

Das Märchen vom Fame durch Missbrauchsvorwürfe

Inwiefern ist das Geschrei um Cancel Culture eigentlich so groß, wenn die angeblich „gecancelt“ Personen nach ein paar Monaten wieder Oscars gewinnen, Welttourneen spielen oder Präsident werden? Und wie passt dazu das ewige Argument, Frauen würden solche Vorwürfe nur für Aufmerksamkeit, Geld oder Fame erfinden? Frauen wie Amber Heard sind keine Gewinnerinnen, sie sind Opfer von Hass, Verachtung, Todesdrohungen. Niemand schenkt ihnen Preise. Niemand gibt ihnen Karrieren. Amber wurde verspottet, weil sie über körperliche und sexuelle Gewalt gesprochen hat. Menschen machten sich über ihr Gesicht lustig, über ihre Stimme, über die Art, wie sie geweint hat, während sie von ihrer Vergewaltigung durch Johnny Depp berichtete.

Bis heute bekommt sie Hass. Bis heute ist sie bankrott. Also wie genau soll das bitte ein Vorteil für sie gewesen sein? Während er seine Karriere ungestört fortsetzt? Das bedeutet nicht, dass sie eine weiße Weste vorzuweisen hat – es zeigt jedoch auf, dass es einen klaren Gewinner und eine klare Verliererin gab in einem Fall, in dem sich niemand mit Ruhm bekleckert hat.

Wird überhaupt jemand gecancelt?

Ja, manche Prominente verschwinden nach schweren Vorwürfen wirklich, aber oft ist das nur temporär. James Franco wurde von mehreren Frauen, darunter Studentinnen seiner Schauspielschule, der sexuellen Belästigung beschuldigt. Lange war es still um ihn, doch 2025 tauchte er plötzlich auf dem Cannes–Festival auf. Armie Hammer wurde mehrfach der Vergewaltigung beschuldigt, zusätzlich gab es entgleiste Gewaltfantasien und Machtmissbrauch.

Das Internet machte daraus ein Meme, die Kannibalenwitze verdrängten die eigentlichen, ernsten Anschuldigungen. Heute hat er wieder Podcast-Auftritte und beklagt öffentlich, wie anstrengend Frauen seien. Shia LaBeouf wurde von FKA Twigs detailliert des Missbrauchs beschuldigt, sie sprach von Manipulation, Isolation und körperlicher Gewalt. Trotzdem wird er in der Branche weiter eingeladen, von Kolleginnen verteidigt und tauscht freundliche E–Mails mit Timothée Chalamet aus. In Hollywood ist er nie wirklich weg gewesen.

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James Franco beim Cannes Festival 2025 I © series_golden via X

Das Problem der Meme–fizierung und Fake News

Das Internet macht aus allem einen Witz. Aus P. Diddy, der wegen Menschenhandel und Vergewaltigung angeklagt ist, werden TikTok–Memes. Aus Armie Hammer wird ein „lustiger Kannibale“. Die Ernsthaftigkeit geht verloren. Und selbst, wenn die Leute glauben, dass jemand schuldig ist, wird es durch Humor entschärft. Alles wird zur Unterhaltung. Alles wird ein Meme. Und wenn etwas nicht mehr ernst wirkt, kann der Täter ungestört zurückkehren.

Ein weiteres großes Problem ist die Verbreitung von Fake News und wie wenig Mühe sich viele Menschen machen, der Wahrheit wirklich auf den Grund zu gehen. In den USA sind Gerichtsdokumente öffentlich einsehbar, auch im Fall Amber Heard und Johnny Depp. Man könnte also alle Beweise, Aussagen, medizinischen Berichte und Tonaufnahmen mit ein bisschen Recherche selbst nachlesen. Aber die meisten Menschen machen das nicht. Stattdessen schauen sie sich lieber ein 15–sekündiges TikTok-Video an, in dem irgendjemand seine Meinung in die Kamera sagt, oft ohne jede Qualifikation. Es reicht, dass jemand selbstbewusst genug redet, um gehört zu werden, egal ob es stimmt. So entstehen Desinformation, verdrehte Tatsachen und Verschwörungstheorien.

Es handelt sich für viele Seiten um ein sehr aufgeladenes Thema, deshalb ist uns umso wichtiger: wie denkst du darüber?

Lina Kheir

Lina liebt kreative Spiele wie Animal Crossing und Die Sims, ist mit Mario aufgewachsen und zockt heute auch Fortnite. Ihre Leidenschaft gilt Serien, Filmen, Popkultur und Büchern – besonders Geschichten mit starken Frauen....